Re: Steinewerfende Jugendliche in Jordanien

Posted by: veloträumer

Re: Steinewerfende Jugendliche in Jordanien - 06/03/10 11:27 AM

In Antwort auf: Marxty
In Antwort auf: weasel
[ Beim Lesen mancher Reiseberichte von Weltumradlern habe ich den Eindruck durch ein enges Zusammenleben mit verschiedensten Nationalitäten in einem überwiegend international besetzten Studentenwohnheim hierzulande lernt man mehr über fremde Mentalitäten und die Realität in der Welt als auf diversen Weltumradelungen.


diese Erfahrung hab ich auch gemacht .....

Ich bin zwar kein Weltumradler - trotzdem halte ich die These für elitär verklärt und kann dies aus meiner Erfahrung auch nicht teilen. Jedes Land hat zunächst mal verschiedene Gesichter und dementsprechend auch mehrere Realitäten. Ein brasilianischer Kommilitone hat mir mal berichtet, dass er seine verlorene/liegen gelassene Geldtasche irgendwo im Land nach einem halben Tage wiederbekommen hat (Geld vollständig). Mein Diplom-Betreuungsprofessor wurde am Flughafen in Rio hingegen ausgeraubt. Beide Seiten sind Realität in Brasilien. Und entsprechend sollte man als Reisender mit beiden Realitäten rechnen.

Ich selber war in einer D-Latinogruppe, die gängige Latinoklischees überwinden wollte. Diesen weiteren Blickwinkel gibt es, aber die Klischees sind auch vorhanden, das betont Positive ist eine Horizonterweiterung, aber die negativen Schlagzeilen, die man aus der medialen Presse kennt, sind deswegen nicht obsolet. Viele Darstellungen ihrer Länder von Studenten aus diesen selber sind die von Intellektuellen - zuweilen auch stark ideologisch gefärbt. Ein linksintellektueller Latino aus Venezuela oder Dom. Rep. wird Kuba in ganz anderem Licht darstellen als ein Exilkubaner in Florida (und die Intellektuellen reden oft lieber über das fremde Kuba als über die eigenen Länder). Die studentischen Latinos waren übrigens von Gruppen "arbeitender" Latinos so weit entfernt, dass Kooperationen nicht möglich waren. Die sozialen Grenzen sind oft wichtiger als die nationalen. Über die Sichtweisen eines wenig gebildeten Ausländers wird man in einem internationalen Studentenwohnheim wenig lernen.

Noch ein Bespiel aus der Medienwelt: Kürzlich habe ich einen TV-Beitrag über Südafrika gesehen - von einer Südafrikanerin ("mein Südafrika"). Der Beitrag war eine Ansammlung von elitären Porträts: eine lesbische Fotografin, ein exquisiter Modedesigner, Luxuslodges mit Ü-Preisen von 1000 € usw. Das ist sicher auch ein reales Gesicht von Südafrika. Aber ich habe mich auch gefragt, wieviel Prozent südafrikanische Alltagsrealität in diesem Beitrag präsentiert wurde und wen das bei uns in Deutschland ansprechen soll. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass es eine recht kokette Selbstdarstellung der präsentierenden (hübschen) Dame war, die mit diesem Filmbeitrag in den Genuss einiger luxuriöser Eitelkeiten gelangt. Für einen Reiseradler sind solche Landeserkenntnisse nicht mal einen Cent wert. Da ist mir ein Bericht eines deutschen Reporters über die Kapaffen lieber und wertvoller.

Schließlich macht es noch einen Unterschied in einem Land zu leben oder es nur zu bereisen - egal wie interessiert der Reisende sein wird. Ich kann noch so häufig durch Italien fahren, woher soll ich aber jemals erfahren, wie die italienische Verwaltung den Alltag des Italieners beeinflusst (von einigen sichtbaren Auswirkungen in Camorra- und Mafia-Regionen abgesehen)? - Wer ein Haus dort vor Ort gekauft hat, weiß ganz anderer Dinge als der ewig Italien-Reisende.

Aber auch das Leben im Land ist nicht der sichere Weg, das Land zu verstehen. Es gibt viele Studenten, die mit verklärten Erwartungen ein fremdes Land wahrnehmen. Ich habe einige tränenvolle Studentinnen gekannt, die die Mentalität des "afrikanischen" Mannes nicht wahrhaben wollten. Zwar gilt das Klischee nicht immer, ist aber häufiger Realität als das die Europäerin wahrhaben möchte.

Auch die Vorurteile, mit denen ich in ein Land einreise, spielen eine gewichtige Rolle für die Wahrnehmung auf der Reise. Bettelnde Kinder sind für den einen eine Last, der andere erkennt in ihrem Lächeln die warmherzige Seele eines Volkes. Für die eine Reisende ist es selbstverständlich sich den Kleidersitten eines konservativen Landes zu unterwerfen, für die andere ist es das ein Bruch mit eigenen Wertvorstellungen und sie wird womöglich ihren Spielraum bis zum offenen Konflikt ausreizen. Was manchmal gastgerechtes Verhalten ist, ist auf der anderen Seite Ausdruck der Zementierung traditioneller Unterdrückung, die von modernen Minderheiten möglicherweise im Land längst bekämpft werden. Soll ich als Reisender solidarisch mich zu kämpfenden Minderheiten oder zur erdrückenden Mehrheit verhalten. Das schlichte Bereisen eines Landes stellt für manchen Einheimischen einen Affront da, doch können Brücken nur geschlagen werden, wenn man die Vorbehalte überschreitet. Reisen in die Fremde ist auch immer eine Reise in ein neues Spannungsfeld. Nicht jedes Dilemma lässt sich maßgeschneidert auflösen - es sei denn durch Verzicht auf die Reise.

Die Reiseethik ist ein weites Feld. So wie sich die Geschicke der Welt entwickelt haben, ist die Welt trotz Globaliserung in ihrem Alltag in den letzten 30 Jahren nicht wirklich näher aneinandergerückt. Viele Abschottungstendenzen haben zugenommen (Religionen), während andere Grenzen gefallen sind (EU). In vielen Ländern sind die Behörden und auch die Einheimischen mit den überrollenden Fremden überfordert - seien es Reisende, seien es Emigranten, seien es Helfer und "Helfer" (Soldaten). Ich halte es daher für sinnvoll, nicht jede Chance zur Welteroberung zu nutzen, solange die anderen Völker nicht deutlicher die Hand zum Dialog ausstrecken bzw. den Reisenden auch als willkommenden Gast empfangen.

Nicht zuletzt: Die Darstellung der Reiseerfahrungen ist auch immer ein Spiegel der eigenen Wertvorstellungen. Deswegen sind Reiseerfahrungen selten falsch, aber oft anders.