Posted by: Flori
Rieseln stocken fließen - 06/24/25 09:57 AM
Vorbereitung
Der peinliche Moment:
Du öffnest ein altes Notizbuch
und begegnest auf wenigen
beschriebenen Seiten
einem früheren Selbst
Das Ziel
Ein Neffe hat Nicole einen Gutschein geschenkt,
für unseren Lieblingswinzer in Wiesbaden,
kam per Einschreiben, mit Stempel
und Unterschrift, einzulösen, das ergibt
telefonische Nachfrage, ausschließlich vor Ort
Das konnte der Neffe nicht ahnen,
er ist Mitte 20 und benutzt sein Smartphone
wie ich meinen Hausschlüssel
Also dann:
Wir haben eine Woche Zeit,
wir haben jeder ein
Deutschland-Ticket und ein
Brompton-Fahrrad
Wir haben noch mehr vor:
Aus Heidelberg kommen taschentaugliche
Füller von Kaweco, das wär was für mich
Nicole studiert das Mainzer Kulturprogramm,
am Donnerstag spielt ihre Lieblingsband,
oder zumindest deren Sänger und Texter
Fortuna Ehrenfeld – Solo am Klavier
Übers Land
Um den Morgen nicht in vollen Zügen
zu verderben, folgen wir bekannten
Straßen, faltradeln
über Odelzhausen –
kurz stinkt es, als wir
die Autobahn queren –
nach Mering zum Bahnhof
mitten im Irgendwo
Früher standen in manchen Vorgärten
lustige Zwerge aus Ton
Jetzt stehen da Masten
Flagge zeigen nicht mehr
nur Schiffe und Rathäuser
Deutschlandfahnen sind unheimlich
praktisch für die Navigation,
weil du jederzeit weißt,
in welchem Land du bist
Unsere Fahne, ich fühle mich mitgemeint
Wir alle sollten, wo wir schon mal da sind,
und obendrein hab ich das Ticket im Abo
Im Zug stehe ich bei 2 Jungs
mit Gelfrisur ohne Räder im Radabteil,
die keine Farben tragen außer Weiß und Schwarz
Sie schauen bunte Clips, und wenn sie
einen guten finden, strecken sie dem anderen
den Bildschirm hin, damit der auch was davon hat
Ich würde ihnen gern
einen Satz ablauschen,
ins Notizbuch schreiben,
aber sie sprechen so leise
und ihre Sprache
beherrsche ich nicht
Umstieg in Ulm, endlich Neuigkeiten
auf der Bank vor uns
Der Dennis ist in Stuttgart
Das gibt's doch nicht,
den müssen wir kurz treffen,
aber nur kurz
Und ich hätte nur eine Frage,
Dennis mit s oder mit z
Esslingen
Die Tauben turteln, die Tauben kacken in den Hammerkanal
Die Tauben flattern ganz nah vorbei,
ich spüre den Luftstrom
Taubennadeln verhindern
eine Landung auf dem Balken
zwischen Hotel und Hammermühle
Ich glaube, es sind
Türkentauben,
ja, so heißen die,
obwohl in Schwaben geschlüpft
Zwischen den Kaffeetassen ein Topf Rosmarin
Am Nebentisch hustet ein Raucher
Und immer noch kein Wort
Ich schau in die Zeitung,
hol mir da einen Satz:
Alles ist offen
Tag der offenen Tür
Alles ist offen, nicht nur die Tür,
der Arsch und der Tisch,
der Ausgang, die Flasche,
die Stellen, die Worte,
der Ofen, Gespräche
Nur ich mach zu, ehrlich,
ich mag nicht, ich
verschließe mich
Mein Vorbild
die Miesmuschel
Zufrieden klappe ich das Buch zu
Da lässt sich was draus machen,
denke ich, eines Tages
Das Dick
Ironie, wer schätzt sie nicht,
zumal auf Seiten des Kapitals
Hier wurde früher malocht
im Schatten des Schornsteins
jetzt Freizeit- und Erlebniscenter
Rebellion
Neben einer Steinbank
stehen stramm in Zweierreihe
acht leere Flaschen Sekt
der falschen Marke, Rotkäppchen
von der Unstrut
Gläsernen Soldaten
mit roten Rebellenmützen,
aufmarschiert im Herzen
des Imperiums, denn
in Esslingen am Neckar
sitzt unübersehbar
Deutschlands älteste Sektkellerei et cetera,
keine Straße ohne den Namen,
ohne Ausschank oder Laden
oder als Sponsor
Ein Tag am Neckar
Wie beschreibst du einen Fluss,
die Muster der Strömung,
die Kringel und Wirbel,
Akanthusblätter, Notenschlüssel,
die Linien, die Weichen,
rotierende Speichen,
tausend Wollknäuel
rollen vom Hügel,
im Schaum lassen Schlitten
spleißende Spuren,
schmelzen schon wieder
Oder du schilderst dein Spiegelbild,
matt und faltig in den Tiefen,
oder schreibst auf, was der Fluss erzählt,
Geschichten vom Sterben und Lieben
Aber wer ist damit beschrieben?
Schauer
Im Regen unter der Brücke
mit einem Crosser
und einer Influencerin
Der Crosser wartet
mit gekreuzten Armen
Die Influencerin
filmt den Regen
und sich
Begrüßung in Heilbronn
Der achtzigjährige Autofahrer
winkt mir nonchalant,
der die Vorfahrt übersehen hat
Mich trifft
die verdrängte Luft
seiner Stoßstange
Er winkt nicht gleich, er
studiert vorher noch mal die Schilder
Auf der Neckarbühne
Weinpavillon an der Neckarbühne,
Kiosk und Bar, ein Strom an Stimmen
Ich schalte die Wellenlängen durch,
filtere das Rauschen aus
Hierarchisch ist mein Problemwort
Das fängt schon mal gut an
Ich kenne auch solche Wörter,
die ich kaum aussprechen kann,
zum Beispiel
Zustrombegrenzungsgesetz
Was läuft auf dem anderen Kanal?
Irgendwann kamen wir dann aufs Alter
er hat das richtig plastisch erzählt
Ach nein, vielleicht zu plastisch
Ich drehe weiter
Wir haben so viel gelacht
weil der so einen Humor hat
Slapsticks hat er eingebaut
über seine Frau und so
Das war dermaßen lustig
Seine Frau war sauer
Der Abräumer kommt, die Gläser abzuräumen
Was schreibt der denn da, fragt der Abräumer
Das wenn wir wüssten, sagt Nicole
Urlaubserinnerungen, sage ich
Und dann habe ich selbst meinen Auftritt
Unterbrechung des Kreislaufs
Ich schlürfe am zweiten Glas Wein,
ziehe das Bein unter den Stuhl,
spüre einen Krampf im Oberschenkel,
springe auf, so schnell
kann mein Kreislauf nicht im Kreis laufen
Ich gehe einmal um den Tisch,
spüre den Schwindel,
ich kenne ihn seit langem,
ich müsste mich
auf den Boden legen,
aber ich lege mich nicht
Ich falle wie ein Schlagbaum.
An einem schwülen Juniabend
kollabiere ich
coram publico auf der Neckarbühne
Ein Ersthelfer beschreibt mir später
das Geräusch des Aufpralls, mein Kopf
gegen das Pflaster
Er trug keinen Helm
beim Weintrinken
Der peinliche Moment:
Du öffnest ein altes Notizbuch
und begegnest auf wenigen
beschriebenen Seiten
einem früheren Selbst
Das Ziel
Ein Neffe hat Nicole einen Gutschein geschenkt,
für unseren Lieblingswinzer in Wiesbaden,
kam per Einschreiben, mit Stempel
und Unterschrift, einzulösen, das ergibt
telefonische Nachfrage, ausschließlich vor Ort
Das konnte der Neffe nicht ahnen,
er ist Mitte 20 und benutzt sein Smartphone
wie ich meinen Hausschlüssel
Also dann:
Wir haben eine Woche Zeit,
wir haben jeder ein
Deutschland-Ticket und ein
Brompton-Fahrrad
Wir haben noch mehr vor:
Aus Heidelberg kommen taschentaugliche
Füller von Kaweco, das wär was für mich
Nicole studiert das Mainzer Kulturprogramm,
am Donnerstag spielt ihre Lieblingsband,
oder zumindest deren Sänger und Texter
Fortuna Ehrenfeld – Solo am Klavier
Übers Land
Um den Morgen nicht in vollen Zügen
zu verderben, folgen wir bekannten
Straßen, faltradeln
über Odelzhausen –
kurz stinkt es, als wir
die Autobahn queren –
nach Mering zum Bahnhof
mitten im Irgendwo
Früher standen in manchen Vorgärten
lustige Zwerge aus Ton
Jetzt stehen da Masten
Flagge zeigen nicht mehr
nur Schiffe und Rathäuser
Deutschlandfahnen sind unheimlich
praktisch für die Navigation,
weil du jederzeit weißt,
in welchem Land du bist
Unsere Fahne, ich fühle mich mitgemeint
Wir alle sollten, wo wir schon mal da sind,
und obendrein hab ich das Ticket im Abo
Im Zug stehe ich bei 2 Jungs
mit Gelfrisur ohne Räder im Radabteil,
die keine Farben tragen außer Weiß und Schwarz
Sie schauen bunte Clips, und wenn sie
einen guten finden, strecken sie dem anderen
den Bildschirm hin, damit der auch was davon hat
Ich würde ihnen gern
einen Satz ablauschen,
ins Notizbuch schreiben,
aber sie sprechen so leise
und ihre Sprache
beherrsche ich nicht
Umstieg in Ulm, endlich Neuigkeiten
auf der Bank vor uns
Der Dennis ist in Stuttgart
Das gibt's doch nicht,
den müssen wir kurz treffen,
aber nur kurz
Und ich hätte nur eine Frage,
Dennis mit s oder mit z
Esslingen
Die Tauben turteln, die Tauben kacken in den Hammerkanal
Die Tauben flattern ganz nah vorbei,
ich spüre den Luftstrom
Taubennadeln verhindern
eine Landung auf dem Balken
zwischen Hotel und Hammermühle
Ich glaube, es sind
Türkentauben,
ja, so heißen die,
obwohl in Schwaben geschlüpft
Zwischen den Kaffeetassen ein Topf Rosmarin
Am Nebentisch hustet ein Raucher
Und immer noch kein Wort
Ich schau in die Zeitung,
hol mir da einen Satz:
Alles ist offen
Tag der offenen Tür
Alles ist offen, nicht nur die Tür,
der Arsch und der Tisch,
der Ausgang, die Flasche,
die Stellen, die Worte,
der Ofen, Gespräche
Nur ich mach zu, ehrlich,
ich mag nicht, ich
verschließe mich
Mein Vorbild
die Miesmuschel
Zufrieden klappe ich das Buch zu
Da lässt sich was draus machen,
denke ich, eines Tages
Das Dick
Ironie, wer schätzt sie nicht,
zumal auf Seiten des Kapitals
Hier wurde früher malocht
im Schatten des Schornsteins
jetzt Freizeit- und Erlebniscenter
Rebellion
Neben einer Steinbank
stehen stramm in Zweierreihe
acht leere Flaschen Sekt
der falschen Marke, Rotkäppchen
von der Unstrut
Gläsernen Soldaten
mit roten Rebellenmützen,
aufmarschiert im Herzen
des Imperiums, denn
in Esslingen am Neckar
sitzt unübersehbar
Deutschlands älteste Sektkellerei et cetera,
keine Straße ohne den Namen,
ohne Ausschank oder Laden
oder als Sponsor
Ein Tag am Neckar
Wie beschreibst du einen Fluss,
die Muster der Strömung,
die Kringel und Wirbel,
Akanthusblätter, Notenschlüssel,
die Linien, die Weichen,
rotierende Speichen,
tausend Wollknäuel
rollen vom Hügel,
im Schaum lassen Schlitten
spleißende Spuren,
schmelzen schon wieder
Oder du schilderst dein Spiegelbild,
matt und faltig in den Tiefen,
oder schreibst auf, was der Fluss erzählt,
Geschichten vom Sterben und Lieben
Aber wer ist damit beschrieben?
Schauer
Im Regen unter der Brücke
mit einem Crosser
und einer Influencerin
Der Crosser wartet
mit gekreuzten Armen
Die Influencerin
filmt den Regen
und sich
Begrüßung in Heilbronn
Der achtzigjährige Autofahrer
winkt mir nonchalant,
der die Vorfahrt übersehen hat
Mich trifft
die verdrängte Luft
seiner Stoßstange
Er winkt nicht gleich, er
studiert vorher noch mal die Schilder
Auf der Neckarbühne
Weinpavillon an der Neckarbühne,
Kiosk und Bar, ein Strom an Stimmen
Ich schalte die Wellenlängen durch,
filtere das Rauschen aus
Hierarchisch ist mein Problemwort
Das fängt schon mal gut an
Ich kenne auch solche Wörter,
die ich kaum aussprechen kann,
zum Beispiel
Zustrombegrenzungsgesetz
Was läuft auf dem anderen Kanal?
Irgendwann kamen wir dann aufs Alter
er hat das richtig plastisch erzählt
Ach nein, vielleicht zu plastisch
Ich drehe weiter
Wir haben so viel gelacht
weil der so einen Humor hat
Slapsticks hat er eingebaut
über seine Frau und so
Das war dermaßen lustig
Seine Frau war sauer
Der Abräumer kommt, die Gläser abzuräumen
Was schreibt der denn da, fragt der Abräumer
Das wenn wir wüssten, sagt Nicole
Urlaubserinnerungen, sage ich
Und dann habe ich selbst meinen Auftritt
Unterbrechung des Kreislaufs
Ich schlürfe am zweiten Glas Wein,
ziehe das Bein unter den Stuhl,
spüre einen Krampf im Oberschenkel,
springe auf, so schnell
kann mein Kreislauf nicht im Kreis laufen
Ich gehe einmal um den Tisch,
spüre den Schwindel,
ich kenne ihn seit langem,
ich müsste mich
auf den Boden legen,
aber ich lege mich nicht
Ich falle wie ein Schlagbaum.
An einem schwülen Juniabend
kollabiere ich
coram publico auf der Neckarbühne
Ein Ersthelfer beschreibt mir später
das Geräusch des Aufpralls, mein Kopf
gegen das Pflaster
Er trug keinen Helm
beim Weintrinken