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#1570672 - ago 13 hours
Rieseln stocken fließen
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: | 31.5.2025 6.6.2025 |
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Vorbereitung Der peinliche Moment: Du öffnest ein altes Notizbuch und begegnest auf wenigen beschriebenen Seiten einem früheren Selbst
Das Ziel Ein Neffe hat Nicole einen Gutschein geschenkt, für unseren Lieblingswinzer in Wiesbaden, kam per Einschreiben, mit Stempel und Unterschrift, einzulösen, das ergibt telefonische Nachfrage, ausschließlich vor Ort Das konnte der Neffe nicht ahnen, er ist Mitte 20 und benutzt sein Smartphone wie ich meinen Hausschlüssel
Also dann: Wir haben eine Woche Zeit, wir haben jeder ein Deutschland-Ticket und ein Brompton-Fahrrad
Wir haben noch mehr vor: Aus Heidelberg kommen taschentaugliche Füller von Kaweco, das wär was für mich
Nicole studiert das Mainzer Kulturprogramm, am Donnerstag spielt ihre Lieblingsband, oder zumindest deren Sänger und Texter Fortuna Ehrenfeld – Solo am Klavier
Übers Land Um den Morgen nicht in vollen Zügen zu verderben, folgen wir bekannten Straßen, faltradeln über Odelzhausen – kurz stinkt es, als wir die Autobahn queren – nach Mering zum Bahnhof mitten im Irgendwo
Früher standen in manchen Vorgärten lustige Zwerge aus Ton Jetzt stehen da Masten
Flagge zeigen nicht mehr nur Schiffe und Rathäuser Deutschlandfahnen sind unheimlich praktisch für die Navigation, weil du jederzeit weißt, in welchem Land du bist
Unsere Fahne, ich fühle mich mitgemeint Wir alle sollten, wo wir schon mal da sind, und obendrein hab ich das Ticket im Abo
Im Zug stehe ich bei 2 Jungs mit Gelfrisur ohne Räder im Radabteil, die keine Farben tragen außer Weiß und Schwarz Sie schauen bunte Clips, und wenn sie einen guten finden, strecken sie dem anderen den Bildschirm hin, damit der auch was davon hat
Ich würde ihnen gern einen Satz ablauschen, ins Notizbuch schreiben, aber sie sprechen so leise und ihre Sprache beherrsche ich nicht
Umstieg in Ulm, endlich Neuigkeiten auf der Bank vor uns Der Dennis ist in Stuttgart Das gibt's doch nicht, den müssen wir kurz treffen, aber nur kurz Und ich hätte nur eine Frage, Dennis mit s oder mit z
Esslingen Die Tauben turteln, die Tauben kacken in den Hammerkanal Die Tauben flattern ganz nah vorbei, ich spüre den Luftstrom
Taubennadeln verhindern eine Landung auf dem Balken zwischen Hotel und Hammermühle
Ich glaube, es sind Türkentauben, ja, so heißen die, obwohl in Schwaben geschlüpft
Zwischen den Kaffeetassen ein Topf Rosmarin Am Nebentisch hustet ein Raucher Und immer noch kein Wort
Ich schau in die Zeitung, hol mir da einen Satz: Alles ist offen
Tag der offenen Tür Alles ist offen, nicht nur die Tür, der Arsch und der Tisch, der Ausgang, die Flasche, die Stellen, die Worte, der Ofen, Gespräche
Nur ich mach zu, ehrlich, ich mag nicht, ich verschließe mich Mein Vorbild die Miesmuschel
Zufrieden klappe ich das Buch zu Da lässt sich was draus machen, denke ich, eines Tages
Das Dick Ironie, wer schätzt sie nicht, zumal auf Seiten des Kapitals Hier wurde früher malocht im Schatten des Schornsteins jetzt Freizeit- und Erlebniscenter
Rebellion Neben einer Steinbank stehen stramm in Zweierreihe acht leere Flaschen Sekt der falschen Marke, Rotkäppchen von der Unstrut
Gläsernen Soldaten mit roten Rebellenmützen, aufmarschiert im Herzen des Imperiums, denn
in Esslingen am Neckar sitzt unübersehbar Deutschlands älteste Sektkellerei et cetera, keine Straße ohne den Namen, ohne Ausschank oder Laden oder als Sponsor
Ein Tag am Neckar Wie beschreibst du einen Fluss, die Muster der Strömung, die Kringel und Wirbel, Akanthusblätter, Notenschlüssel, die Linien, die Weichen, rotierende Speichen, tausend Wollknäuel rollen vom Hügel, im Schaum lassen Schlitten spleißende Spuren, schmelzen schon wieder
Oder du schilderst dein Spiegelbild, matt und faltig in den Tiefen, oder schreibst auf, was der Fluss erzählt, Geschichten vom Sterben und Lieben
Aber wer ist damit beschrieben?
Schauer Im Regen unter der Brücke mit einem Crosser und einer Influencerin Der Crosser wartet mit gekreuzten Armen Die Influencerin filmt den Regen und sich
Begrüßung in Heilbronn Der achtzigjährige Autofahrer winkt mir nonchalant, der die Vorfahrt übersehen hat
Mich trifft die verdrängte Luft seiner Stoßstange
Er winkt nicht gleich, er studiert vorher noch mal die Schilder
Auf der Neckarbühne Weinpavillon an der Neckarbühne, Kiosk und Bar, ein Strom an Stimmen Ich schalte die Wellenlängen durch, filtere das Rauschen aus
Hierarchisch ist mein Problemwort
Das fängt schon mal gut an Ich kenne auch solche Wörter, die ich kaum aussprechen kann, zum Beispiel Zustrombegrenzungsgesetz
Was läuft auf dem anderen Kanal?
Irgendwann kamen wir dann aufs Alter er hat das richtig plastisch erzählt
Ach nein, vielleicht zu plastisch Ich drehe weiter
Wir haben so viel gelacht weil der so einen Humor hat Slapsticks hat er eingebaut über seine Frau und so Das war dermaßen lustig Seine Frau war sauer
Der Abräumer kommt, die Gläser abzuräumen Was schreibt der denn da, fragt der Abräumer Das wenn wir wüssten, sagt Nicole Urlaubserinnerungen, sage ich
Und dann habe ich selbst meinen Auftritt
Unterbrechung des Kreislaufs Ich schlürfe am zweiten Glas Wein, ziehe das Bein unter den Stuhl, spüre einen Krampf im Oberschenkel, springe auf, so schnell kann mein Kreislauf nicht im Kreis laufen Ich gehe einmal um den Tisch, spüre den Schwindel, ich kenne ihn seit langem, ich müsste mich auf den Boden legen, aber ich lege mich nicht
Ich falle wie ein Schlagbaum.
An einem schwülen Juniabend kollabiere ich coram publico auf der Neckarbühne Ein Ersthelfer beschreibt mir später das Geräusch des Aufpralls, mein Kopf gegen das Pflaster
Er trug keinen Helm beim Weintrinken
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#1570673 - ago 13 hours
Re: Rieseln stocken fließen
[Re: Flori]
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Triage Durch den Gang schwappen die Neuzugänge herein, die Ärztinnen, das Pflege- und Laborpersonal Betten fahren ins Röntgen, ein Rollstuhl wird gebracht, Krücken und Schläuche, nicht für mich
Wir liegen am rechten Ufer, ich und andere Angeschwemmte, eine lange Reihe von Betten An der Wand ein Schild Darauf steht Triage Wir sind dran, wenn's passt
Auf der linken Seite tun sich Buchten auf, doppelt belegte Zimmer (zwischen den Betten ein Vorhang) für Patienten, die ohne Frage mit Vorrang zu behandeln aufgrund ihres Zustands
Übrig Sie haben mich in der Not aufgenommen, so richtig gern bin ich nicht mitgefahren, aber was blieb mir übrig
Ich lag fünf Stunden auf Triage, völlig zurecht, allen anderen ging es schlechter, obwohl der Alkohol langsam nachließ, und Schmerzmittel fand ich dann doch übertrieben
Ich wollte hören, ob die Beule nur eine Beule ist
Ich lag lange Zeit auf dem langen Gang und hörte Gespräche, die ich lieber nicht gehört hätte
Verstehen Sie mich? war der häufigste Satz
Ärztlicher Rat Verstehen Sie mich? Ist ihr Mann dement?
Wenn Sie ihn nicht allein lassen können müssen wir ihn eben herbringen
Hat der Pflegedienst einen Schlüssel?
Verstehen Sie mich? Sie müssen entscheiden, ob Sie bleiben oder gehen, das kann ich Ihnen nicht abnehmen
Ich kann nur empfehlen Es wäre besser, wenn Sie bleiben Es besteht die Gefahr einer Blutvergiftung
Verstehen Sie mich?
Heilwasser intravenös Die Jungs vom ASB legen mir eine Infusion, Kochsalzlösung angeblich, in Wirklichkeit sicherlich Wasser aus dem Solebrunnen, das der Stadt den Namen gab
Pfleger Jan bringt mir einen Beutel mit Eiswürfeln, isoliert durch ein Haarnetz Nach ein paar Stunden leckt Heilwasser aufs Laken und auf mein T-Shirt mit den blauen und weißen Streifen
Es hat geholfen, ich kann wieder aufstehn, hallo Jan, ich müsste mal aufs Klo
Temperament Die Notaufnahme quillt über Pfleger*innen eilen von Bett zu Bett, kurze Rücksprache, Dateneingabe mitten im Gang, manche, je nach Temperament, stöhnen oder seufzen heute wieder, nicht zu glauben, aber was hilft's und weiter, andere arbeiten schweigend
Der Damm bricht, die Worte treiben ab: Schreien Sie mich nicht an, schreit die Pflegerin Wir versuchen, Ihnen zu helfen
Der Pöbler stammt von meiner Seite, rechter Rand, Triage, ganz vorn Ich liege schon sechs Stunden hier, brüllt er, Sie könnten tot sein, hört er, glaubt es vielleicht nicht, denn er entlässt sich, humpelt betont aufrecht hinaus, braungebrannt, Hemd offen bis zum Bauchnabel, letztes Wort: Saustall
Pfleger*innen Sie hasten vorbei oder bleiben gegenüber stehen, sagen kurze Sätze Ich rate, woher sie kommen Einige reden schwäbisch die anderen sind schwieriger
Beispielsweise die Pflegerin mit dem Seidenhaar Ihre Eltern kamen über die Seidenstraße, rede ich mir ein Es ist nicht der Moment, originell zu sein Sie nimmt mir noch mal Blut ab
Ich kann sie schlecht fragen Ich erfinde Vorgeschichten zu den Gesichtern
Einsame Kindheit oder viele Geschwister, an der Schule in Mannheim, Farah oder Vyškov Die Eltern geflohen vor Repressionen oder haben sie verhängt
Hoffnung auf Freiheit, um zu entscheiden, was du tust und was du sagst Wer du bist
Ich könnte weitermachen, aber das ist alles falsch oder, und das wär auch nicht besser, nur zufällig richtig
Vor der Notaufnahme nachts um halb zwei beim Warten aufs Taxi ihre Gesichter ein letztes Mal Rauchpause, sie sehen mich nicht an, ich gebe mir Mühe, sie auch nicht zu sehen
Der Taxifahrer ist fremd in Heilbronn, aber er hat zwei Google Pixel, mit denen unterhält er sich in der Fremdsprache Deutsch weisen sie ihm den Weg
Entlassen Gegen ein Uhr die Diagnose und Empfehlung, zwei Tage nicht radzufahren
Der Arzt hat kein Verständnis, als ich mich anschließend selbst entlasse,
statt noch eine Stunde auf seinen Arztbrief zu warten
Ich sei angespannt, sagt er Höre ich da einen persischen Akzent?
Aber es stimmt, er will über Schwindel reden, ich nur über die Beule
Eine seiner Fragen deute ich falsch, geht es um Röntgen oder CT?
Ich sei verwirrt, sagt er, ob ich Probleme hätte beim Verstehen der Worte?
Ich sage nein, es ist spät, ich sage, etwas Schlaf wär vielleicht gut für die Heilung,
aber ich sage nichts über seinen Satzbau
Haltestelle Dieser Zug endet heute außerplanmäßig in Neckargemünd, alle hasten zur S-Bahn nach Heidelberg, wir setzen uns ins Eis-Café Roma, gelbe Neonschrift vor schwarzen Fliesen, Kulisse für einen Film von Fellini, in Rom regnet's
Ein E-Radfahrer im Poncho passiert Da kommt ein Fußgänger mit einem Mantel, in der Mühlgasse muss ein Radladen sein, Schwalbe Marathon, unplattbar
Drüben an der Haltestelle wartet schon der Bus nach Mückenloch Friedhof
Morgensonne Halb fünf in Ziegelhausen Die ersten Strahlen der Morgensonne quetschen sich am Vorhang vorbei, wecken mich Ich lausche den unbekannten Geräuschen der Hühner, einer Baumaschine irgendwo, in meinen Kopf, Rinnsale finden sich
Es gibt ein Zieglberg im Landkreis Dachau, einen Ort mit sieben Häusern und einer Aussichtsbank, von der du ganz München überblickst, die Frauentürme, die Versicherungsarena, das Heizkraftwerk in Sendling und dahinter das Karwendel bei Föhn ganz nah
Ich liege wach in Ziegelhausen, Ortsteil von Heidelberg, in einer Ferienwohnung mit Aussicht über ganz Ziegelhausen, hinter dem Vorhang, und denke an Zieglberg und seine Aussichtsbank, auf der steht: nur für Zieglberger
Ich sitze in der verdunkelten Küche schreibe nahezu unsichtbare Wörter auf Leuchtturm-Papier
Heute ist nicht der Tag, da ich mich aus dem Staub mache und verdunste
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Edited by Flori (ago 12 hours) |
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